Gemeinsam glauben
Die Gretchenfrage: Goethes berühmte, von Gretchen an Meister Faust gestellte Frage, wie dieser es denn mit der Religion halte, gilt bis heute als Symbol für die Suche nach dem wahren Kern einer Sache. Was aber ist der Urgrund, auf dem das Zusammenleben in unseren Kolpinghäusern „Gemeinsam leben“ beruht? Gedanken dazu von Präses Ludwig Zack
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzensguter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Mit diesen Worten wendet sich Gretchen an Faust. Sie will endlich wissen, woran sie bei ihrem Geliebten wirklich ist: Was ihn bewegt und antreibt, was bei ihm sozusagen „unter der Oberfläche schlummert“.
In unseren Kolpinghäusern „Gemeinsam leben“ wohnen und wirken viele herzensgute Menschen: Schwestern, Pfleger, amtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter aus allen Bereichen, Bewohner und Besucher – das tagaus, tagein zu beobachten und mitzuerleben, genügt das nicht?
Einerseits muss man natürlich sagen: Ja, das genügt, denn solche Männer und Frauen sind ein Segen für alle anderen! Aber bleibt da nicht noch etwas offen? Muss so ein sympathischer, herzensguter Mensch nicht einen „Urgrund“ seines Denkens, Wollens und Handelns haben? Da geht es doch auch um Tieferes, da gibt es doch noch etwas, wonach es die klassische „Gretchenfrage“ zu stellen gilt.
Gretchen selbst nennt es Religion, wenn sie von ihrem Urgrund spricht. Aber Faust, der gelehrte Professor, sagt dazu Glauben. Denn Religion, das kommt für ihn zu sehr aus den Köpfen der Menschen: aus Büchern, Denk-, Interessens- und Machtsystemen. Der Glaube hingegen kommt aus dem Herzen, der Seele, aus ihren Sehnsüchten, Ängsten und Hoffnungen.
So gesehen könnte die Gretchenfrage auch lauten: „Nun sag, wie hältst du es mit dem Glauben?“ Für unsere Kolpinghäuser bedeutet das konkret: Wie gehen wir hier mit dem Glauben unserer Bewohner und Mitarbeiter um? Und was halten diese selbst von Glauben und Religion?
Eine einfache Antwort wäre: In unseren Kolpinghäusern hat der Glaube einen hohen Stellenwert – sowohl in Favoriten wie in der Leopoldstadt feiern wir selbstverständlich jeden Sonntag Gottesdienst.
Nur, so einfach wie diese Antwort ist, so dünn ist sie auch. Denn eines ist sicher: Jeder Gottesdienst lebt vom Glauben seiner Teilnehmer, und so grotesk es auch klingen mag – er „lebt“ deshalb, weil es sich dabei nicht um ein Treffen von Heiligen handelt, sondern um eine Gemeinschaft von Gläubigen mit all ihren Hoffnungen, Zweifeln, Verletzungen, Verfehlungen, Verlusten und Enttäuschungen.
Die Teilnehmer eines Gottesdienstes sind kein Elitezirkel, der „weiß, wo Gott wohnt“ und daher auch weiß, wie das Leben der anderen zu „gehen“ hat. Vielmehr gehört es zum Wesen des gläubigen Menschen, dass er die Wahrheit nicht kennt. Er sucht sie – und das oft sehr lange und manchmal kann diese Suche auch sehr schmerzhaft sein.
Immer aber ist die Glaubensbeziehung eine ganz unverwechselbar persönliche Grundbefindlichkeit des Einzelnen. Gerade das macht sie so kostbar und gefährlich zugleich: Denken wir dabei an die großen und kleinen Glaubenskriege einerseits, andererseits aber an die wunderbare Kraft des Glaubens, der sogar Berge versetzen kann.
Womit wir bei der Antwort auf unsere zu Anfang gestellte Gretchenfrage wären: In unseren Kolpinghäusern „Gemeinsam leben“ halten wir den Glauben für ein hohes Gut. Oder im christlichen Sprachgebrauch ausgedrückt: für eine Gnade – die Gnade, dort dabei sein zu dürfen, wo Menschen aus ihrem jeweiligen Glauben heraus ihr Leben zu gestalten versuchen, aus einem Glauben, der nicht trennt, sondern verbindet, der unser Zusammenleben fördert und nicht hindert, der Hoffnung macht und von Ängsten befreit.