In einem anderen Leben

Einfühlsam schildert der österreichische Schriftsteller Arno Geiger in seinem Buch: „Der alte König geht ins Exil“ das Zusammenleben mit seinem demenzkranken Vater. Was Menschen alles lernen müssen, die von heute auf morgen mit der Desorientierung eines geliebten Verwandten konfrontiert werden, das lesen Sie im folgenden Erfahrungsbericht einer Angehörigen.

Zunächst hat es niemand bemerkt. Da gab es zwar das eine oder andere Problem beim Umgang mit dem Geld, ich musste ihn zur Bank begleiten, ihm alles erklären, aber wirklich auffällig war es nicht. Eines Tages meldete sich dann seine Ärztin bei mir. Mein Vater nehme seine Tabletten nicht. Mit einigen Erklärungen und einigem guten Zureden schien die Angelegenheit aber gelöst. Ein wenig vergesslich werden wir schließlich alle, wenn wir älter werden.

Als seine Lebensgefährtin, die bis dahin alle Probleme recht gut kaschiert hatte, dann ins Spital musste, war mein Vater plötzlich auf sich allen gestellt. Da wurde es offensichtlich, dass er Unterstützung brauchte. Selbst wollte er sich nicht zu seiner Veränderung äußern. Er stellte sich stur und lehnte jeden Vorschlag, ob Heimhilfe oder Essen auf Rädern, ab.

Zunächst überredeten wir ihn zu einem „Probewohnen“ in einem Pensionistenheim, doch dort gefiel es ihm nicht – er fühlte sich „wie in einem Gefängnis“. Irgendwann erklärte er sich aber bereit, es mit einem Tageszentrum zu versuchen. Doch auch dort ging es irgendwann nicht mehr und wir begannen einen Pflegeheimplatz zu suchen, den wir hier im Kolpinghaus „Gemeinsam leben“ schließlich auch gefunden haben. Leicht fiel ihm dieser Umzug natürlich nicht. Erst schön langsam, so nach und nach, begann er Hilfe anzunehmen. Jetzt sagt er manchmal: „Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht.“

Den richtigen Umgang mit der neuen Situation zu erlernen, das war und ist sicher das Schwierigste bei der Sache. Früher tanzte er gerne und liebte das Wandern. Das mag er auch heute noch. Wir gehen oft miteinander spazieren, und er besucht mit viel Freude die Sing- und die Musikgruppe. Früher spielte er auch gerne Karten. Das geht jetzt leider nicht mehr. Wir haben es versucht, aber es ist nicht mehr möglich. Gern schaut er sich mit mir gemeinsam seine Fotowand an. Besonders wichtig für ihn ist ein Bild aus seiner Kindheit, das ihn mit seinen Eltern und Geschwistern
zeigt.

Wenn ich mich nach einem Besuch von ihm verabschiedet habe, denke ich oft darüber nach, ob es diesmal gut gegangen ist oder ob es schwierig war. Dann ist es gut, wenn ich mit jemandem darüber reden kann. An meinen Nicht-Besuchs-Tagen, ich komme jeden 2. Tag, schaue ich darauf, dass ich meinen Kopf frei bekomme, damit ich mein eigenes Leben auch noch leben kann.

Es gibt Tage, da ist er in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Dann können wir nicht unsere Runde machen, weil er meint, er müsse noch „kellnern“ (das hat er früher gemacht) oder „Straßenbahn fahren“ (das war auch einer seiner Berufe). Oder er lebt wieder in seiner Jugend. Dann fragt er, „Wann gehen wir nach Hause?“, und meint damit sein ehemaliges Elternhaus. Das Kolpinghaus hält er für seine alte Schule, die wegen der vielen Leute vergrößert worden sei, und nach der Singgruppe redet er immer von der „Lehrerin“.

Wenn ich mich mit ihm unterhalten kann, merke ich, dass es ihm gut geht. Bei der Verabschiedung sagt er dann, „Ja, servus!“, wenn es ihm schlecht geht, fragt er, „Wo bin ich?“ – Meistens ist er jetzt aber glücklich, fühlt sich wohl und geborgen hier im Kolpinghaus. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass es ist, wie es ist, mich zu bemühen, dass er Freude hat und dankbar zu sein, wenn er glücklich ist. Es ist ein ewiger Lernprozess, auf den man sich da einlassen muss.

 
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